Normale Besonderheiten

von 16 lennard_g  



Von Berlin, Hauptstadt von Welt mit knapp 3,5 Mio. Einwohnern nach Nueva Guinea, Provinzkaff mit knapp 20.000 Einwohnen. Von Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde, nach Nicaragua, ins zweitärmste Land Lateinamerikas (Quelle: Auswärtiges Amt). Dass das Veränderungen mit sich bringt, war von Anfang an klar.

Wie sehr sich jedoch das Leben, der Alltag, die Dinge die man so tagtäglich erlebt und auch die eigene Wahrnehmung von Normalität verändern, ist mir vor einigen Tagen beim Reflektieren, nachdem ich nun gut ein halbes Jahr schon hier vor Ort bin, nochmal besonders klar geworden.

Das sind zumeist Kleinigkeiten, Dinge bei denen man kurz nach seiner Ankunft noch gesagt hätte "wow, das ist neu" oder "okay, das würde bei uns anders laufen". Mit der Zeit gewöhnt man sich daran, passt sich an, nimmt anders wahr. Stutzen tut man immer noch ab und an, wenn einem mal wieder etwas für uns eigenartiges vor Augen geführt wird, man in Situationen gerät, die man so bei sich zuhause nie erlebt hätte oder kleine Besonderheiten wahrnimmt, die man mittlerweile häufig einfach akzeptiert oder gar übersehen hätte. Oftmals schmunzele ich dann und mache mir bewusst, wo ich mich eigentlich gerade befinde.

Ich möchte im Folgenden mal einige solcher Dinge, Gegebenheiten oder Momentaufnahmen die mir aufgefallen sind und immer wieder auffallen und die mir beim Schreiben spontan in den Sinn kommen aufzählen. Gewollt unzusammenhängend.


Schwein im Garten



"Brücke" - Nica style



Totes Pferd am Wegesrand

Eine gepflasterte Straße ist eine Besonderheit. Landwege sind oftmals besonders abenteuerlich, ca. alle zwei Wochen muss ein Fahrradreifen erneuert werden. Gewaschen wird mit der Hand, Waschmaschinen besitzt hier kaum jemand. Häuser sind meist einstöckig. Jede Familie besitzt ein Haus, sei es noch so winzig und heruntergekommen, oftmals nur morsches Holz und olle Wellbleche. Pferdekarren oder Cowboys begegnet man jeden Tag. Es gibt mehr Taxis als Privatautos. Die vereinzelten Autos die es gibt, sind meist große, teure Allradjeeps mit Ladefläche. Überall laufen Hühner herum. Viele Familien haben ein Schwein im Garten. Ein Bauer spaziert mit Schwein an der Leine durch die Stadt, vermutlich zum Schlachter. Ich muss anhalten und kurz warten bis die Rinderherde, die gerade die Straße passiert, weitergezogen ist. Alle paar Stunden kräht der Nachbarshahn. Überall streunende Hunde. Wagen mit ohrenbetäubend lauten Lautsprechern fahren durch die Straßen und spielen ein und dieselbe Werbeansage in Dauerschleife. Kein einziger Geldautomat in der Stadt hat mehr Geld. Wenn neues Geld geliefert wird, stehen ein halbes Dutzend schwerbewaffneter Soldaten wache. Auf Landwegen sind Gummistiefel Grundvoraussetzung. Kleine Bäche oder gar Flüsse werden durchwatet bzw. mit behelfsmäßigen "Brücken" ausgestattet. Manche Häuser besitzen keinen konkreten Fußboden, gelebt wird auf plattgetretender Erde. Plastikmüll wird verbrannt, oftmals in der Kochstelle im Haus, oder landet auf der Straße. Auf meinem Arbeitsweg fliegt ein Schwarm kreischender Papageien neben mir her. Ein gefällter Baum blockiert die halbe Straße, wohl einfach liegengelassen. Es riecht nach Verwesung, am Wegesrand liegt ein totes Tier. Aasgeier fliegen in der Luft. Die Tierwelt macht die seltsamsten Geräusche. Fast jeder glaubt an Hexerei und Magie. In der Kirche nebenan wird dreimal die Woche laut gesungen, meist jeden Mal dasselbe Lied. Es gibt Hausgottesdienste bei Leuten daheim. Beerdigungen sind ein public happening, man geht hin auch wenn man den Toten gar nicht persönlich kannte. In Bussen fühlt man sich wie in einer Konservenbüchse. Muss ein Mutter mit Kleinkind im Bus stehen, nehmen ihr oft andere, sitzende Frauen, wie selbstverständlich das Kind ab und lassen es bei sich auf dem Schoß sitzen. Man wird angestarrt, mal interessiert, mal penetrant, mal freundlich, mal skeptisch. Im Gegensatz zu Berlin habe ich mich noch nie unsicher gefühlt. Man grüßt sich, sei es nur ein Zunicken. Wildfremde Menschen rufen dir hinterher oder fangen Gespräche mit dir an. Fast jedes dritte Wort kann eine versteckte sexuelle Bedeutung haben. Leute schauen einem beim Gespräch seltener in die Augen. Taxis haben verschiedene Huptöne, oftmals auch eine die nur dafür da ist, Frauen hinterherzuhupen. Schon Kinder haben mehr Rhytmus im Blut als du. In den Nachrichten kommt ein Beitrag, wie in der Hauptstadt Managua ein Motorradfahrer über rot gefahren ist bzw. ein Busfahrer während der Fahrt an seinem Handy telefoniert. Besucher werden stets zum Essen eingeladen. Jeder Eckladen verkauft dieselben Produkte. Ein Essen ohne Bohnen ist kein richtiges Essen. Jungs sind entweder Barcelona- oder Madrid-Fans. Die Müllabfuhr ist von den Japanern gesponsort. Kleidungsläden besitzen meist nur die ausgestellten Stücke, ein Lager mit anderen Größen gibt es kaum. Wir sitzen im Kerzenlicht am Küchentisch und lesen, weil seit Stunden der Strom nicht geht. Manchmal gibt es kein Wasser. Mir werden Nachts meine Schuhe durchs Terrassengitter geklaut. Getränke und Eis werden/wird in kleinen Plastiktüten verkauft. Viele Früchte werden nur ausgepresst und als Getränke verzehrt. Orangen schält man anders als bei uns. Ich entdecke alle paar Wochen eine Frucht, von der ich noch nie zuvor gehört habe. Eine Kuh steht bei uns im Garten und macht sich genüsslich über unsere Pflanzen her. Macheten sind Alltagsgegenstände und erfüllen unzählige Funktionen. Laute Musik stört hier niemanden. Es gibt eine Serie im Fernsehen, bei denen schwerste Unfälle und auch Verletzte unzensiert und aus nächster Nähe gezeigt werden. Jeder zweite Typ trägt eine Cappy/Basecap. Man trifft sich zum Fußballspielen um 6 Uhr morgens.

Die Liste könnte noch ewig so weitergeführt werden, vielleicht widme ich dem Ganzen nochmal einen anderen Blogeintrag. Auf weitere Erläuterungen der einzelnen Stichworte oder auf versuchte Erklärungen wieso etwas so ist, möchte ich hier bewusst verzichten, genauso wie auf eine Bewertung ob gut oder schlecht. Nicaragua ist halt anders. Interessant anders.

BlogNo:03

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