Der Schein

von 18 lena  

Jaco 2010, ein kleines Mädchen Namens Ireni wurde geboren. In Zeiten des Wachstums einer von Touristen damals noch neu entdeckten, bereits überlaufenen Stadt an der Pazifikküste von Costa Rica. Große Hotels werden gebaut während sich die Bauarbeiten zur Aufbesserung der Infrastruktur nur so überschlagen. Die Preise jagen plötzlich in die Höhe.

Für die einheimischen Familien, die von Fischfang und Landwirtschaft lebten, ist der Umstieg auf das Tourismusbusiness auf einmal die einzige Möglichkeit, ihre Existenz zu sichern. In den neuen Hotels werden Arbeitskräfte in Küchen und im Reinigungsservice benötigt. Gegen die neuen, großen schicken Restaurants haben die herkömmlichen Sodas für Nordamerikaner eher eine geringere Anziehungskraft. Plötzlich beherrscht eine extrem starke Konkurrenz die Strandpromenade und verlangt Anpassung von denjenigen, die zuvor da waren.

Ireni wusste davon noch nichts. Sie hatte das Glück, dass ihre Mutter schlau war und sich im richtigen Moment dafür entschied eigenständig ein Geschäft aufzumachen. Sie sammelte all ihr Geld zusammen und kaufte sich einen kleinen Laden ganz nahe am Strand gelegen. Sie war begabt und kreativ, schmückte ihn und erschuf das gewisse etwas, nach dem die Touristen suchten. Sie verkaufte das, wonach die Leute sich während eines Tages am Strand in der heißen Sonne sehnten: Frisches Obst, ausgefallenes und gesundes Frühstück sowie Mittagessen, Smoothies und kalte Fruchtsäfte. Ihr Geschäft lief von Beginn an, sie hatte ihr Leben in den Händen. Sie zog Ireni alleine groß und konnte es sich sogar leisten ihrem Kind zur Einschulung ein Fahrrad zu kaufen. Ireni verbrachte gerne den ganzen Tag bei ihrer Mutter im Laden und spielte mit ihren beiden Katzen, sie war die beste in der Schule, denn sie gab sich immerzu viel Mühe und lernte zusätzlich jeden Tag eine Stunde englisch zusammen mit ihrer Mutter, die sich selbst verbessern wollte.

Irenis Mutter hatte lange Zeit keinen Mann gehabt, oder hatte es vor ihrer Tochter verheimlicht, doch mittlerweile hatte Ireni viele Liebhaber ihrer Mutter kennengelernt und sich dabei stets unwohl gefühlt. Bei den Liebhabern handelte es sich nicht selten um Männer, die nicht mal spanisch sprachen und sich deshalb auch kaum mit den beiden verständigen konnten. Jedoch waren sie auch nach wenigen Tagen, spätestens nach zwei Wochen wieder weg.

Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt, doch als Ireni das erste mal nach ihm fragte, wollte ihre Mutter ihr nichts vormachen und erzählte, dass er ganz in der Nähe, am anderen Ende der Stadt wohnte. Ireni dachte viel darüber nach, wer ihr Vater war und warum er nie vorbei gekommen war, um zu sehen wie es ihr ging. Wollte er nicht wissen wie fleißig seine Tochter war? Wollte er sich nicht erkundigen, ob sie und ihre Mutter gesund und munter waren? Sie konnte es nicht verstehen und fragte eines Tages die kolumbianische Sodabesitzerin von gegenüber nach dem Namen ihres Vaters.

Die Kolumbianerin lebte bereits seit 20 Jahren in Jaco und kannte Irenis Vater nur zu gut. Sie erwähnte dabei, wo der Vater seit Jahren arbeitete. Den Ort kannte Ireni, sie war schon unzählige Male mit ihrem Fahrrad an diesem Hotel vorbei gefahren, es lag auf ihrem Schulweg.

Am nächsten Tag nach der Schule machte sie Halt genau an diesem Hotel. Sie stellte ihr Fahrrad ab, betrat das Gebäude und fragte an der Rezeption nach seinem Namen. Der Rezeptionist zögerte kurz aber verriet ihr, dass sie ihn zu dieser Uhrzeit wahrscheinlich am Pool auffinden könnte. Er genehmigte ihr Eintritt und zeigte ihr den Weg durch die große Eingangshalle in den hinteren Teil des Hotels, wo sich Leute auf den Liegen sonnten und ein Mann vor einem sehr großen Pool auf einem hohen Sitz saß und alles beobachtete.

Der Rezeptionist rief ihn zu sich, er stieg von seinem Sitz hinab und kam auf die beiden zu. Ireni stand ihm ganz plötzlich gegenüber, sie hatte so lange auf diesen Moment gewartet. Ihr Vater wusste schneller Bescheid als ihm lieb war, denn er sah sie an und erkannte ihre Mutter wieder. Er sagte: „komm mit“, sie folgte ihm. Sie gingen an einen Ort, an dem niemand sonst war und er begann sehr schnell klar zu machen, dass sie hier nichts verloren hätte und sich nicht wieder blicken lassen sollte. Zudem stellte er klar, dass sie kein Geld von ihm bekommen würde, niemals, sie sollte bei ihrer Mutter bleiben und nicht denken, dass er Interesse an ihrem Leben hätte.

Ireni wusste nicht, warum das passiert war aber sie wusste, dass sie sofort weg wollte. Deshalb nahm sie all ihren Mut zusammen, schrie: „Ich brauch doch auch gar nichts von dir, ich brauch dich nicht in meinem Leben! Denk das bloß nicht!“. Sie lief weg, raus aus dem Hotel und schwang sich auf ihr Fahrrad. Ihre Mutter würde überhaupt nicht merken, dass sie dort gewesen war, das Ganze hatte sie nämlich nicht mal zehn Minuten gekostet.

Als sie wieder zuhause war, erwähnte sie nichts, sie machte ihre Hausaufgaben und aß ihr Mittagessen. Sie machte einfach so weiter wie zuvor, sie war stark genug, um das zu ignorieren, was ihr kleines Herz zerschmettert hatte.

Ich traf Ireni vor wenigen Wochen, ich kannte ihre Mutter, sie ist nämlich eine Cousine von einem Freund der Freiwilligen. Die beiden sind Mitglieder einer der wenigen alten Familien, die seit vielen Generationen in Jaco leben, weshalb die Familie unter Einheimischen auch recht gut bekannt ist. Ich lernte Irenis Mutter etwas genauer kennen, sie hatte viele Talente, um sich ihr Geld zu beschaffen. Sie bot einen Service an, wobei sie ihre Kunden schminkte, ihnen die Haare machte oder die Nägel lackierte.

Auch Ireni lackierte gerne ihre Nägel und zeigte sie mir ganz stolz. Daraufhin wollte sie auch meine Nägel lackieren und ich stimmte zu. Ich unterhielt mich mit ihr und sie erzählte mir vieles, während meine Nägel mit einem babyrosafarbenen Lack beschmiert wurden. Sie war unglaublich stolz auf das Resultat und sagte, ich wäre ihre erste Klientin gewesen. Sie wollte zudem noch meine Fußnägel lackieren und meine Lippen schminken, aber das sprach eher gegen meine Komfortgrundlagen, deshalb bedankte ich mich und gab ihr noch 1000 Colones als kleine Belohnung.

Zu meinem Überraschen konnte sie es kaum fassen und platzte fast vor stolz, als sie ihrer Mutter den Schein zeigte und strahlend berichtete, dass sie jetzt auch Nägel lackieren würde und Geld dazu verdienen kann. Später am Abend besuchte ich die beiden nochmals.

Zufälligerweise kam genau in diesem Moment auch der Freund von Irenis Mutter in den Laden, woraufhin Ireni mich bat, mit ihr nach draußen zu gehen. Wir gingen ein Stück und sie verriet mir, dass sie sich unwohl fühlte, wenn ein Freund ihrer Mutter kam, sie wollte nur, dass er wieder verschwindet. Sie erzählte mehr und mehr und letztendlich auch die Geschichte mit ihrem Vater. Sie hatte ihrer Mutter nie etwas davon gesagt. Sie wollte, dass ich es weiß, sie bat mich auch darum, noch nicht zu gehen, als ich weiter wollte. Es brach mir das Herz, als ich sie nach einiger Zeit dann doch zurück lassen musste. Das kleine fröhliche Mädchen war ganz leise geworden und sagte, sie würde sich freuen, wenn ich morgen wieder kommen könnte. Leider war der nächste Tag nicht dafür gedacht, ihn in Jaco zu verbringen und so habe ich sie seit Wochen nicht gesehen.

Es ist nur die Geschichte eines Mädchens, das inmitten einer Touristenhochburg groß wird, ein Mädchen, dass noch so jung ist und schon so viel durchmacht, ohne zu wissen, was sie eigentlich durchleben muss. Deshalb beschäftigt mich ihre Geschichte, ihre Situation allgemein. Denn ihr Leben ist, wie das Leben vieler anderer dort, bestimmt von den Umständen, die Fremde dort schaffen. Das eröffnete mir eine ganz andere Perspektive, mit der ich diesen Ort als etwas anderes betrachte, als die meisten Menschen, die dort nur für kurze Zeit zu Besuch kommen. Ich sehe es anders als die Leute, sie sich von denjenigen Dingen blenden lassen, die für sie geschaffen wurden. Ein Umfeld, dass sie falsche Message vermittelt und einen glauben lässt, dass es auf nichts geringeres als eine schöne Zeit am Strand ankommt, eine Zeit mit viel Sonne, Meer, Party, gutem Essen und guter Laune.

BlogNo:04

1 Kommentar

Kommentar von: Marie [Besucher]

Danke für deine ehrlichen Worte! Ernüchternde Sichtweise auf die Verhältnisse in solchen Touristenorten. Aber bestimmt eine sehr wertvolle Erfahrung für dich.


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