Vermessene Massstäbe: Gedanken zu Entwicklungstheorien und globalen Unterschieden

von 17 radka  

Wir sind die Meister des Vermessens.
Mit der wissenschaftlichen Vermessung und Erkundung der Welt begann erst das eigentliche Vermessen. Denn worin wir Meister sind, ist nicht das Messen von Längen, von Gewicht, von Volumen. Wir sind die Meister im subjektivem Vermessen anderer Menschen und Kulturen.


Das ist normal. Wir teilen unsere Umwelt in Kategorien. Das erleichtert uns den Alltag, schuetzt uns vor potenzieller Gefahr und lässt uns soziale Kontakte aufbauen.
Dieser Blogbeitrag ist von einer Diskussion, die bei viel zu lautem Latino-Pop (aka. Bachata) gefuehrt wurde und von der mir immer noch die Ohren schmerzen, da viel gerufen wurde um das nervtötende Getöse zu überblenden.
Ein Tico beginnt ungefragt auf mich einzureden und ich habe eigentlich keine Lust. Er ist unermuedlich, erzählt von Kultur, Identifizierung etc. Interessant. Ich versuche mich auf das zu konzentrieren was er sagt. Er fragt mich, welche Arbeit ich hier mache und stellt mir seine wichtigste Frage: ¨Y estas aquí para mejorar Costa Rica?¨ (Bist du hier um Costa Rica zu verbessern?), ich antworte ¨Nein, das ist nicht meine Aufgabe.¨. Augenscheinlich ist er sehr zufrieden mit meiner Antwort.
Es geht um den Unterschied zwischen Deutschland und Costa Rica, er macht ihn deutlich indem er eine Hand dem Boden entgegen streckt, die andere Richtung Decke. Ich denke ich muss nicht erklären welche Hand welches Land präsentiert. Ich frage ihn: ‚Wieso?‘. Er sagt ¨Es cultural¨. Ich sage: Aber worin vergleichst du diese beiden Länder gerade, welcher Massstab? In Glueck? In Wirtschaftskraft? In Zufriedenheit? In Herzlichkeit? In BIP? In Infrastruktur? In Familienzusammenhalt? InTraditionalität?
Er antwortet: ¨Es culural.¨

Welcher Massstab.
Wir haben nur einen und dieser lässt uns die Welt in Entwicklungs-, Schwellen- und Industrienationen unterteilen. Unser Massstab: Umsatz, Aussenhandelsbilanzen, BIP, Gini-Koeffizient.....

Damit messen wir.
Wir können mit nichts anderem messen, egal wie sehr wir es versuchen die Welt mit anderen Augen zu sehen. Das ist unsere Kultur. Wir sind stark konditioniert genau so zu messen.
Wie messen Menschen in anderen Kulturen? Ausserhalb einer Leistungs- und Konsumgesellschaft? In Costa Rica wird weitestgehend mit den selben Masstäben wie bei uns vermessen. Es wird sich verglichen mit anderen Ländern und man versucht sich anzugleichen, ¨hoch¨ zuarbeiten. Während von der anderen Seite Gelder fliessen um eben jene Entwicklung anzutreiben. Gleich, gleiches Niveau, überall, auf der ganzen Welt.
Kann das realistisch sein?
Ist es realistisch eine Welt die sich in Klima, Vegetation, Geschichte, Sprache, Musik... unterscheidet üeberall auf den selben Standard zu bringen und so eine grosse Erdkultur und Gesellschaft zu erschaffen?
Wieso sagen wir ¨Dieser Mensch hat weniger Geld als ich ergo ist er arm ergo ist er unglücklich und will mehr Geld.¨. Wieso will er mehr Geld? Weil ich Konsumgüter unterstütze und produziere, sie den Menschen als essenziell anpreise und die dazu treibe zu kaufen, zu streben, zu leisten.
Will man Armut tatsächlich bekämpfen, will man Entwicklungshilfe leisten damit die Menschen in ¨besseren¨ (Vorsicht! Dies ist eine vermessene Aussage!) Umständen leben können oder damit sie mehr Geld haben ergo mehr konsumieren können.

Diese Sicht ist sehr pessimistisch dem inneren Wesen des Menschen gegenüber. Ich bin ein absoluter Menschheitsoptimist. Das bedeutet ich glaube, dass Menschen in ihrem Inneren gut sind und aus Nächstenliebe handeln, aus dem Drang sich selbst besser zu füehlen. Und man fühlt sich eben besser, wenn man jemandem ermöglicht die Schule zu besuchen ohne den Hintergedanken, dass er dann mehr der Gesellschaft und wirtschaft zu geben hat.
Also um den Bogen zur Messung zu schlagen. Dieses oben beschriebene Bedürfnis, zu helfen, ist das gewollt? Ist das, das was wir tun sollten um diese welt so gut es geht zu unterstützen? Ist es in Europa ausgearbeitete Lernprogramme in Lateinamerika umzusetzen einem Kontinen der sich so ziemlich in allem von der Alten Welt unterscheidet?
Ich habe einmal mit einem Tico darüber geredet, dass jede Gesellschaft ihre eigenen Entwicklungsschritte durchläuft und wir kamen zu dem Schluss, dass Deutschland einfach scchon mehr Zeit in eben jenem Entwicklungsprozess hatte, also Costa Rica einige Schritte vorraus ist.
Aber kann man diese These so festlegen?
Was wir diskutiert haben ist die ¨Modernisierungstheorie¨. Eine von drei Hauptentwicklungstheorien der Sozialwissenschaft.
Hier ist die Kernthese, dass Entwicklungsunterschiede durch endogene, also interen Faktoren ( bedingt sind. Im Gegensatz dazu steh die Dependenztheorie, laut derer die Unterschiede von externen Faktoren (Ausbeutung, Kolonialismus etc.) abhängen.

¨Economic development of underdeveloped people by themselves is not compatible with
the maintenance of their traditional customs and mores. A break with the latter is a
prerequisite to economic progress. What is needed is a revolution in the totality of social,
cultural and religious institutions and habits, and thus in their psychological attitude, their
philosophy and their way of life. What is, therefore, required amounts in reality to social
disorganization. Unhappiness and discontentment in the sense of wanting more than is
obtainable at any moment is to be generated. The suffering and
dislocation that may be caused in the process may be objectionable , but it appears to be the
price that has to be paid for economic development; the condition of economic progress.“
(J.L. Sadie, 1960: 302).

(¨Wirtschaftliche Entwicklung von unterentwickelten Menschen ist nicht vereinbar mit die Aufrechterhaltung ihrer traditionellen Bräuche und Sitten. Ein Bruch mit letzterem ist dieVoraussetzung für wirtschaftlichen Fortschritt. Was benötigt wird, ist eine Revolution in der Gesamtheit der sozialen, kulturelle und religiöse Institutionen und Gewohnheiten, und damit in ihrer psychologischen Haltung, ihre Philosophie und ihre Art zu leben. Was daher benötigt wird, ist in Wirklichkeit soziale Desorganisation. Zu jedem Zeitpunkt sollte Unglück und Unzufriedenheit in dem Sinne, dass man mehr will als erreichbar ist, generiert werden. Das Leid und die orientierungslosigkeit, die in dem Prozess verursacht werden kann, kann kritisiert werden, aber es scheint auch der Preis zu sein, der für die wirtschaftliche Entwicklung bezahlt werden muss; die Bedingung des wirtschaftlichen Fortschritts. "
(J. L. Sadie, 1960: 302).)

Unglück, Unzufriedenheit und unbefriedigte Bedürfnisse sind also eine Basis die geschaffen werden muss, um Wirtschaftswachstum hier also Synonym für Entwicklung, anzukurbeln.

Kann das sein?
Darf das unser Wunsch sein? Menschen unglücklich machen, ihnen zeigen was sie alles nicht besitzen damit sie ¨besser¨ Leben? Aber ist ¨besser¨ leben nicht auch glücklich leben?
Das perfiede schüren von Bedürfnissen, der bewusst provozierte Vergleich.
Kann das Entwicklung sein, nein: kann das eine gute und erwünschte Entwicklung sein?

Ich durchforste das Internet und stosse auf Titel von Präsentationen wie ¨Unterentwicklung in Entwicklungsländern¨ oder ¨Wirtschaftsprobleme der Entwicklungsländer¨.

Dieses absolut abgefahrenen Konzept, dass wir diese Länder zu dem machen was sie sind, was sie aber eigentlich gar nicht sind, was einfach nur ein Massateb, ein Vergleich ist ein Abmessen, geht mir erst jetzt wirklich auf.

Natürlich gibt es globale Ungleichheiten, Industirenationen beuten andere Länder für ihre Rohstoffe aus, zwingen ihnen ihre Produkte auf, schüren Bedürfnisse, kreieren Abhängigkeiten. All das existiert und ich werde nie behaupten das das alles nur in unserem Kopf sei.

Aber der Auslöser, der Schritt zu der Welt die wir heute kennen, ist die Annahme man könne mit einen Zollstock zur Vermessung des Gewichts benutzten, man könne mit einer Waage die Hohe eines Baumen bestimmen oder mit einem Lineal die Zeit nehmen.

Alles eine Frage des Massstabs, alles eine Frage der Vermessung und Vermessenheit.

Dieser Mann, der ungefragt begonnen hatte mit mir zu diskutieren erscheint mir rückblickend wie ein Geist. Wie jemand der kurz in mein Leben geschlüpft ist um mir etwas klar zu machen, um mich etwas, dass ich schon wusste verstehen zu lassen, und dann wieder zu verschwinden.

Quelle:
Modernisierungs- und Dependenz-Theorie

BlogNo:19

Noch kein Feedback


Formular wird geladen...