Grenzerfahrungen

von 21 sandra  

Ich weiß noch, als mich Hermann auf dem Zwischenseminar gefragt hatte, inwiefern ich bis jetzt meine Komfortzone verlassen habe. Und ich war super überfordert mit der Antwort; nicht weil ich hier wie zuhause leben würde – das auf keinen Fall – oder weil mir hier noch nie etwas passiert wäre, was ich mir in meinem Leben nie hätte vorstellen können.

Sondern weil ich mit dem Konzept Komfortzone einfach maßlos überfordert war. Ich habe damals nicht so ganz verstehen können warum, jetzt habe ich es verstanden. Es ist nicht, dass ich hier zu wenig meine Komfortzone verlasse, wie es mir Hermann unterstellt hatte, sondern weil ich hier konstant außerhalb meiner 'deutschen' Komfortzone bin. Alles ist hier so wahnsinnig anders, dass es für mich zwei verschiedene Welten gibt, die nichts miteinander zu tun haben.

Ich habe das verstanden, als ich gestern darüber nachgedacht habe, warum es ein paar sehr extreme Erfahrungen gibt, die ich zwar problemlos mit anderen Freiwilligen und gewissen Leuten vor Ort teilen und ohne jedliche Hemmungen endlos darüber philosophieren konnte, aber sich irgendwas ganz tief in mir drin weigert, diese meiner besten Freundin, die vor ein paar Monaten noch die Person war, der ich manche Dinge als einzigem Menschen in meinem Leben anvertraut habe, zu erzählen. Und das ist nicht, weil ich durch die Zeit auseinander das Vertrauen in sie verloren hätte, sondern eben weil es gedanklich einfach eine komplett andere Welt ist. Alle Erwartungen und Maßstäbe daran, was passieren wird oder könnte, sind so gänzlich anders. Ich nehme die Dinge hier auf eine so andere Art wahr, dass mir vieles, was hier passiert, wenn ich es durch meine Deutschland-Sicht wahrnehme, einfach nur so komplett absurd und unerzählbar vorkommt. Dinge, die für den Salitre-Teil meiner Gedanken mittlerweile quasi zu Alltag geworden sind und die ich hier halt einfach als die Probleme, die man halt so hat, betrachte.

Das ganze klingt gerade alles vielleicht ein bisschen tragisch oder ungesund. Aber es gibt ja auch andersherum Dinge aus Deutschland, die mir hier aus meiner Costa-Rica-Sicht wahnsinnig absurd vorkommen – nicht nur gute. Und ist es nicht genau das, wozu wir diesen Freiwilligendienst machen, eben damit wir die Welt aus den Augen einer Person, die in einer komplett anderen Welt lebt, sehen und eine komplett andere Perspektive auf alles zu bekommen. Und dafür müssen wir dann halt auch in Kauf nehmen, schlechte Erfahrungen zu machen. Wie willst du jemanden verstehen können, wenn du nie die selben oder auch nur ähnliche Probleme hattest, wie sie und wenn die Dinge, die diese Person ihr ganzes Leben lang alltäglich durchmacht, niemals Alltag für dich waren?

Jemand aus meiner Einsatzstelle, der sich immer unglaublich viel Mühe gegeben hatte, uns möglichst viel von der Kultur und dem Leben vor Ort zu zeigen und dabei immer versucht hat, dass wir möglichst positive Erfahrungen machen, war super mitgenommen, als er von meinen negativen Erfahrungen mitbekommen hat, weil er sich ehrlich wünscht, dass ich nur positive Erfahrungen mitgenommen hätte.

Aber wieso sollten wir hier ein 'besseres' Leben haben, als die Leute vor Ort und wieso sollten wir erwarten und hoffen, nur Gutes mitzubekommen? Dann wären wir ja wie die Touristen, die in extrem arme Gebiete fahren und dort in bewachten Luxushotels ihren Strandurlaub machen, während nebenan die Leute an ihrer Armut verrecken. Wer die Welt sehen will, muss auch bereit sein, die Welt zu fühlen.

BlogNo:03

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