Eine Begegnung mit Steve

von 24 moe  

Beim Reisen ist es erstaunlich, in welch einer Vielzahl man Begegnungen erfährt, die einen stark spirituellen/esoterischen Touch haben. Zumindest geht es mir so. Durch die Distanz zu seinen liebsten Menschen ist man ausgehungert und dürstet nach jeglicher menschlicher Interaktion, die das Gehirn wahrscheinlich mit extra viel Glückshormonen belohnt. Außerdem hat man auf einmal die Kapazitäten und lässt sich viel lieber auf Gespräche ein, als in seinem sicheren Zuhause, in dem man in seiner eigenen Komfortzone vor sich hin wabert. Hinzu kommt, dass meist instant gegenseitiges Interesse da ist – aufgrund der einzigartigen Mischung aus Gemeinsamkeiten und Unterschieden.

Gemein hat man die Gegenwart: die aktuelle Lebenssituation, sich in einem fremden Land zu befinden und dann sogar noch im gleichen Hostel oder Ähnlichem aufeinanderzutreffen, was augenblicklich jegliche Berührungsängste aufgrund von unterschiedlicher Altersklasse und sozialer Schicht aufhebt. Dazu muss man sagen: Das Mindset von Leuten, die sich auf Reisen begeben, stimmt bereits oft relativ gut miteinander überein.

Unterscheiden tut man sich in der Vergangenheit und der Zukunft, was viel Gesprächsstoff bietet und Anlass zum mühelosen Austausch gibt. Mit anderen Worten: Man trifft ganz viele Verbündete, die jedoch ganz weit entfernt vom eigenen Heimatort aufgewachsen sind und sowohl viele ähnliche Ansichten teilen als auch ganz fremde.

Allzu oft driften diese Gespräche ganz schnell ganz tief, und ehe man sich versieht, redet man über Gott, die Welt und den Tod und fühlt sich, als kenne man sich bereits ewig – wobei Heimweh durch noch mehr Fernweh ausgetauscht wird. Es hinterlässt in mir das Gefühl, als würde sich mein Bewusstsein um mehrere Zentimeter ausweiten und hilft mir zu erahnen, was die Wissenschaft bis heute alles noch nicht erklären kann. In diesem expandierten Zustand wirkt das Universum so unfassbar groß und bunt – und zugleich doch alles wie Eins.

Dabei kann ich nicht umhin, als brennende Neugier und Staunen über das Wunder unserer Existenz in mir lodern zu spüren, welche sich ausdrückt durch ein seliges Lächeln auf den Lippen.

Eine dieser Begegnungen ist mit Steve aus Kanada gewesen, schätzungsweise um die 70/80 Jahre alt.

Zur Erklärung: Normalerweise hätte ich seltenst die Initiative ergriffen, mich dem Kontaktknüpfen mit Steve zu widmen, zumal ich leider quasi nie einen Draht zu Menschen hohen Alters finde – vor allem nicht zu Männern. Die beschriebenen Umstände auf Reisen machten es jedoch unmöglich, es nicht zu tun – sowie die herzliche Begrüßung:

Er grüßte mich bereits mit dem offenen Traveler-Interesse, und ich konnte es in gleicher Intensität zurückgeben.

Er hatte mich auch ziemlich schnell gecatched, indem er seine Tochter erwähnte, die einen Mann in Costa Rica heiratete und mit ihm eine organische Kakaofarm gründete, wo sie mehrmals im Jahr Kindergruppen aus Kanada anleitet.

Am nächsten Morgen erzählte ich ihm von meinen Halsschmerzen, woraufhin er mir sein Oregano-Öl empfahl, welches Wunder bewirke. Ich hatte einen inneren Kampf in mir, den ich in Sekundenschnelle lösen musste: Von meiner Organisation wurde uns zur Genüge eingetrichtert, uns aufs Strengste in Acht zu nehmen vor der heimlichen Verabreichung von K.-o.-Tropfen – und dass diese Gefahr hinter jeder Ecke lauere. Nun war ich kurz davor, von einem fremden Mann ein Heilmittel entgegenzunehmen, das er aus seinem Zimmer holte, wodurch er mit Leichtigkeit auch ein paar böse Tropfen hätte einmischen können.

Ich schwankte stark zwischen „ganz, ganz dumme Idee“ und meinen Menschenkenntnissen, die mir flüsternd zuschrien: „Alles gut, der macht nix.“ Folgender Notfallplan ließ mich das Öl probieren: vorher das Fläschchen beäugen und einfach nach der Einnahme auf direktem Wege in mein Zimmer gehen, mich dort einschließen und mich zur Not beim Hostelpersonal melden.

Neugierig und in Vorfreude auf das mediterran-duftende Öl, das in meiner Vorstellung angenehm nach Pizza schmeckte, leckte ich die zwei Tröpfchen von meiner Handfläche aus dem koscher aussehenden Gläschen. Doch ich dachte, ich schmecke nicht richtig. Das meiste landete auf meiner Lippe, die sofort wie die Hölle brannte, und der Rest ätzte mir gefühlt den Mund- und Rachenraum weg.

Mit tränenüberströmtem Gesicht rang ich um Luft und Worte, um zu sagen, dass das ganz schön heftiges Zeug ist, während ich übereifrig meine Banane aß – ohne die mir Steve das Öl nicht hatte geben wollen. Jetzt verstand ich auch, wieso er so sehr auf etwas Geschmackneutralisierendes bestand.
Ich bedankte mich heiser, ging auf mein Zimmer und fand per Ecosia heraus, dass Oregano-Öl ein natürliches Antibiotikum ist. Ein knock-out-artiger Zustand blieb zum Glück aus. Auch der Arzt, zu dem ich später ging, lobte das Oregano-Öl, verschrieb mir aber dennoch chemisches Antibiotikum, da ich eine Mandelentzündung hatte.

Bei meinen nächsten Begegnungen mit Steve erzählte er mir, dass seine Tochter eine der ersten war, die den Tanzstil Contact Improvisation nach Costa Rica gebracht hat. Er kam gerade von einer Veranstaltung dieses Tanzes, wo er einige Bekannte durch seine Tochter traf. Meine Patentante und mein Patenonkel sind seit vielen Jahren selbst große Fans dieser Tanzrichtung.

Es brauchte ein paar Gespräche, bis sich mein feministisches Alarmsystem – das vor allem bei alten, weißen Männern auf Hochtouren läuft (beruhend auf genügend schlechten Erfahrungen) – vollständig beruhigen konnte, da es die Prüfung von Steves Verhalten als akzeptabel und passabel befand und keinen Anschubs in Form von Aufklärung über toxische Männlichkeit für nötig erachtete.

Er fragte löblicherweise stets nach, wenn er neue Begriffe in unser Gespräch einwarf, ob ich davon bereits gehört habe und ob ich wissen möchte, was dahintersteckt – und er erklärte es mir nach meinem „Ja“ oder empfahl mir, den Begriff zu recherchieren. So konnte ich ihm kein „Mansplaining“ vorwerfen – also wenn Männer ungefragt und ohne zu wissen, ob es überhaupt der Fall ist, davon ausgehen, ihr ganz tolles Wissen interessiere den oder die Gesprächspartnerin brennend, und dieser habe davon noch nie gehört.

Doch Steves und meine Empathie führten zu einem Austausch, in dem die Gesprächsthemen für beide relevant blieben – statt zu einer Art Monolog, bei dem der menschliche Kontakt verloren geht.

Er erzählte mir von einer christlichen Glaubensgemeinschaft, dem Quäkertum, der Akasha-Chronik – einer Art „Buch des Lebens“, von dem behauptet wird, dass es ein allumfassendes Weltgedächtnis enthält und im Bereich der Esoterik zu verordnen ist –, über Edgar Cayce, einen US-amerikanischen Seher und Mystiker, der im Trancezustand angeblich Diagnosen für Patient*innen „empfing“, oder von Nostradamus, einem französischen Arzt und ebenfalls Seher.

Steve erzählte mir außerdem von glimpses aus seinen vergangenen Leben. Als er mit seiner Frau, die aus der Türkei stammt, im Süden der USA unterwegs war, hat es dort plötzlich für ihn nach Zuhause gerochen. Ebenso fühlt er eine besondere Verbindung zu dem von Hannibal geführten Krieg gegen das Römische Reich. Diese beiden Empfindungen führt er darauf zurück, dass sie möglicherweise mit seinen vergangenen Leben zu tun haben könnten.

Unsere Kontaktdaten haben wir nicht ausgetauscht, sodass die Begegnung mit Steve zu einer von vielen spannenden Aufeinandertreffen auf Reisen wird – dem ich nur nochmal durch Zufall begegnen oder, wenn es das Schicksal so möchte, wiedersehen werde und der mir ein weiteres Lächeln ins Gesicht zaubert, wenn mein Gehirn mir Jahre später wie aus dem Nichts diesen herzlichen Menschen wieder in Erinnerung ruft.

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