Ich helfe? - Hilf mir hier raus!

von 16 paulina  


Lagerplatz und Verteilstelle

Samstag früh um Punkt 4:55 Uhr stand der gute Alejandro mit seinem VW-Pick-Up vor unserem Haus und schon beim ersten Blick auf diesen gewaltigen Geländewagen wussten Bella und ich auf Anhieb, dieses Wochenende würde nur so von Abenteuer sprießen. Doch so positiv das Wort „Abenteuer“ konnotiert wird, genauso einschneidend durfte unsere Erfahrung mit der dunklen Seite dieses Wortes werden.

Eine drei-stündige Autoreise über Berg und Tal führte uns in das abgelegene Indigenen-Reservat von Tsipiri, Turrialba, einem nur schwer erreichbaren Stück Wildnis, wo sich das Hochland als des Menschen bester Freund und Feind gleichzeitig erweist - zum Schutz als auch zur Überwindung. Für Alejandro hieß jene Tour lediglich ein weiteres Häckchen auf seiner jährlichen To-do-Liste, denn als Arzt und Mitglied der Assoziation „Pro Indígena Quircó“ hatte er schon einige dieser Trips hinter sich.


Ja, wir können jetzt Weihnachtsgeschenke verteilen.

Zur letzten Tour dieses Jahres wurden wir also von diesem liebenswerten Menschen eingeladen mitzukommen, nicht als seine persönlichen Assistentinnen oder gar als wilde Camper, nein, unsere Aufgabe bestand darin, das Team beim Weihnachtsgeschenkeverteilen zu unterstützen oder ähnliche logistische Lücken zu füllen - für uns Freiwillige ein gefundenes Fressen!

Mit jeder gefühlt endlosen Minute, die wir voran kamen auf der schlammigen, felsigen off-road-Route, die abgesehen von einem LKW und einem Touristenbus (Dieser transportierte einen Teil des Teams) von sonst niemanden befahren wurde, wuchs unsere Vorfreude auf die kommenden 36h an so außergewöhnlich neuer Lebenserfahrung.

Das nächst größere Dorf mit den fürs zivile Überleben „nötigsten“ Einrichtungen, einer Pulpería (Mischung aus Bar und Supermarkt), einer Schule inklusive Fußballplatz etc., hatten wie schon längst zurückgelassen, als uns Alejandro erzählte, dass die meisten Indigenen-Familien Tage-lange Wanderungen auf sich nehmen über genauso ein Gelände, was jeder Pferdestärke zum Verhängnis werden kann.

Vielleicht denkt sich einer jetzt, „Klar, fürs Überleben tut man das halt“, allerdings sollte man sich vor Augen führen, diese Menschen tun dies NICHT mit einem anatomisch angepassten extra leichten Wanderrucksack, sondern mit fast all ihrem wertvollsten Besitz! Ein Kind vorne an der Brust der Mutter angeschnallt, zwei bis drei weitere Kleinkinder auf dem Esel oder Pferd, das von allen Seiten beschwert ist mit gewichtigen Säcken und anderen Utensilien. Die älteren Kinder packen mit an, indem sie nicht selten Verantwortung über ein ganzes Tier oder ihr Geschwisterkind tragen.

So machten sich geschätzte 250 Menschen des Indigenenstammes Cabecar auf den weiten Weg zum Lagerplatz, das von der Assoziation speziell zu solchen Zwecken, wie dieser großartigen Veranstaltung, errichtet wurde. Währenddessen füllte sich die Halle mit einem mächtigen Bestand an Nahrungsmittel, Bergen an Kleidungssäcken und liebevoll weihnachtlich verpacktem Spielzeug – Entweder aus Spenden erworben oder durch wohltätige Finanzierung von Seiten der Assoziation realisiert.

Nach kurzer Orientierungspause hieß es am Nachmittag für Bella und mich auch schon rein in den Ameisenhaufen: Säcke aufknoten oder aufreißen, Klamotten Stück für Stück herausziehen, definieren und im letzten Schritt nach Geschlecht und Eigenschaften sortieren; Damen rechts, Herren vorne, Kindersachen hinter den Damen nochmals in Altersklassen unterteilt.

Klingt in der Theorie erstmal simpel, die Umsetzung in der Praxis erwies sich als komplizierter: Hin- und her mit jedem einzelnen Kleidungsstück durch die Masse an Menschen, wo oberflächlich jeder weiß, was Sache ist und wie sie zu erledigen ist, aber doch keiner sich komplett an das genannte System hält.

Wie findet man nun sein eigenes effizientes System ohne im Weg zu stehen, zu kritisieren…oder passt man sich gar an, weil man doch offensichtlich sogar körpersprachlich zu verstehen bekommt, dass man falsch arbeitet?

Obwohl man ganz genau weiß, was falsch abläuft, bietet es sich aus tausend Gründen nicht an, die Umstände zu bemängeln, daher nahmen wir aufgrund dieser 15-minütigen Erfahrungsbasis die Zügel selbst in die Hand und beschlossen zu kooperieren, denn lange haben wir dieses Durcheinander psychisch so nicht hinnehmen können: Ich habe an einer Stelle des kleinen Raumes, der zur Verfügung stand, alle Sachen herausgeholt und daraufhin Bella, die Artikelbezeichnung und das Geschlecht zugerufen, während sie, als die mobilere von uns beiden, das Kleidungsstück auf den dafür vorgesehenen Haufen legte, oder sagen wir warf :D; Es war die einzige Möglichkeit dem Tempo gerecht zu werden. Soweit geschafft, dachten wir uns, schließlich waren wir uns noch nicht dem Ausmaß an Stress bewusst, der am nächsten Tag auf uns zukommen würde.

Es verging ein schöner geselliger Abend erwärmt durch liebevoll zubereitete Snacks, eigene handgemachte Musik am Lagerfeuer und der einen oder anderen Wiederholung unserer Lebensgeschichte.

Sonntag Morgen war bestimmt für die große Geschenkausgabe, die schon sehnsüchtig von den Kindern und Eltern gleichermaßen erwartet wurde. Daher sei es auch nicht überraschend gewesen, dass sich die Schlange an Menschen bereits den Tag zuvor bildete, sogar die Nacht über verweilend an Ort und Stelle, um sich des Weges zu entlohnen und keinesfalls leer auszugehen.


Was für ein Andrang!

Zu unserem Aufgabenbereich zählte die Kleiderausgabe: Ein Job, den ich mit größtem Respekt angegangen bin und mit noch größerem Respekt vollendet habe: Aus einem höher gelegenen Fenster schaute ich herunter auf das bunte Menschendickicht vor mir, nur schwer die Silhouetten einzelner Personen erkennend, was noch intensiviert wurde durch ein Geflecht aus Rufen, Schreien und Gejaule. Plastikbeutel oder Müllsäcke hochgestreckt in meine Richtung, denn es lag nun in meinen Händen, buchstäblich, die bettelnden Frauen mit Kleidung auszustatten für die Tochter, den Mann, die Freundin und nicht zu vergessen sie selbst.

Komplette Verwirrung durchzog meinen Körper, aber ich riss all meine Energien zusammen, davon überzeugt, dass es wie am vorherigen Tag sicher nur wenige Minuten an Einarbeitungszeit brauche bis ich drin sei im angestrebten Rhythmus und die Arbeitsdynamik mich überholte. Doch mein Unterbewusstsein hatte Recht.
Zügig sollte ich zehn Artikel pro Sack auswählen, mit reinem Gewissen, grob angepasst an die Person, aber wie entscheide ich? Was passt, was gefällt, was ist sinnvoll, was wird gebraucht, was ist von Nutzen, was würde ein Lächeln herbeirufen? Überwältigend war diese Verantwortung für mich, denn mit jedem gefüllten Sack habe ich realisiert, ich entscheide gerade über die Identität mehrerer Menschen: Ihr Aussehen, ihr Wohlbefinden, ihr Lebensgefühl unterliegt zu einem gewissen Teil meiner Bestimmung.

Ich empfand mich immer mehr als fehl am Platz, ich wollte nicht länger bevormunden. „Kleider machen Leute“, sagt der Volksmund, richtig? Ist das übertrieben, frage ich mich? Womöglich sehen diese Menschen Kleider eher als Überlebenstool an, oder gar als Luxusartikel? Mein Gewissen spielte verrückt, ich versuchte sachlich zu bleiben, der Situation gerecht zu werden und machte weiter, schließlich half ich doch?

Der Stress ließ sich nicht leugnen: Babys schrien in den armen ihrer jungen Mütter, die nebenstehenden Kinder zerdrückt von der Menschenmasse, ältere Frauen am Rande ihrer Kräfte bemüht das riesige Gedränge zu durchstehen und ich nahm mir die wertvolle Zeit mit Bedacht und Vorsicht Kleidungsstücke zu durchwühlen, suchen und wählen, auch, wenn nur gut gemeint, wie konnte ich nur? Egal, bei der nächsten Person würde ich es besser machen!

Es stand die Rückgabe an: Warte, an wen? Die Frau mit dem Baby, wo ist sie hin? Sie stand eben noch hier? Klar, sie wollte raus aus dem Getümmel. Aber wie finde ich sie wieder? Was mache ich nun mit dem Beutel? Lohnt sich die Suche? Die Zeit eilte, Menschen leideten.. also gab ich den Beutel einfach weg.

Ich kam nicht mehr zurecht, daher entschied ich mich für einen Moment auszusetzen, durchzuatmen und um mich herum zu schauen…

Wo waren die vielen Helfer geblieben? Unsere Partner, die wir am ehesten gebraucht hätten? Ich fühlte mich gänzlich überfordert, alleine gelassen, von Kopf bis Fuß irritiert und von der Realität missbraucht. Krampfhaft versuchte ich mich daran zu erinnern, dass ich gekommen war, um zu helfen…

BlogNo:03

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