Urbanización en La Perla

von fabian_11  

Wenn ich nach San José fahre, überquere ich nah an der Stadtgrenze eine Brücke, die über einen Fluss führt, der sich tief unter mir durchs Dickicht schlängelt. Zu meiner Rechten zieht ein Hügel vorbei, von vorne scheint er grün und steil, zur anderen Seite fällt er flacher ab. Hier überspannt den Rasen ein Konstrukt bunter Wellblechdächer, schmaler Passagen und schmutziger Gehwege. Große Familien leben hier in kleinen Räumen, dicht an dich mit anderen Vätern, Mütter, die in der Stadt auf Arbeit hoffen und die ihnen Angetrauten stets in den neuen Tag hinüberzuretten suchen, einander verbunden durch Schweiß und Elend. Ein Slum.

In Deutschland besteht seit Dekaden das Problem der wachsenden sozialen Ungerechtigkeit, die Unterschiede radikalisieren sich. In Spanien oder Griechenland hält Jammer und Klage Einzug, weil die Wirtschaft im Staub liegt und reihenweise Geschäfte in den Städten schließen. Außerhalb Europas, so wage ich zu behaupten, gestalten sich solche Kehrseiten von Urbanisierung und Konzentrierung der Menschenmassen jedoch noch offensichtlicher, drastischer, aber auch...natürlicher. Speziell im vom Liberalismus der USA geprägten Lateinamerika.

Dennoch, trotz der Selbstverständlichkeit der Bettelnden, der Lebenskünstler, der reglos am Straßenrand Liegenden. Touristen schreckt dieses Bild der Armut vielleicht ab. Vor allem die feinen Europäer. Wenn sie hier schon Obolusse europäischen Niveaus für ihren Cocktail entrichten sollen, muss man doch Dargebotenes den bei solchen Preisen geschürten Erwartungen anpassen. Und solange Europäer noch nicht an die Allgegenwärtigkeit von Leid und Elend auf dem eigenen Kontinent erfahren haben, impliziert das: Weg mit den Slums! Nieder mit der Quote von Überfällen und Raubmorden! Wie aber bewerkstelligen? Zum Glück hat Präsidentin Laura schon eine Idee: Aussiedeln in ländliche Bezirke, ein gleichmäßiges Verteilen des menschlichen Abschaums, der sich momentan so unangenehm zusammenballt, soll selbigen unsichtbar machen. So starten also im ganzen Land Urbanisierungs-Projekte, Auftragsleiter sind wenige Firmen, deren Unterstützung man sich zur Finanzierung des nächsten Wahlkampfes zusichern will. Es lässt sich bereits erahnen, dass dies nur eine Verschiebung und Dezentralisierung des Problems darstellt.

Wie im Beispiel von La Perla, einem Dorf...nun, genau genommen beginnt es jenseits der Straße. Dort wurde letztes Jahr eine Ausweitung und Modernisierung der Schule vorgenommen, auch wenn die Kinder dort bereits davor Probleme hatten, in den Räumen nicht verloren zu wirken. Stirnen zogen sich zusammen, Ahnungen stiegen auf. Dann der Hammerschlag: Die Population soll durch den Bau einer urbanización von 70 Häusern verdoppelt werden, die bisherige Bevölkerung soll für die Ausweitung der Infrastruktur aufkommen, die neuen Bewohner könnten ja auf der Ananasplantage unterkommen und in San José sinkt die Zahl der Verbrechen. Mich persönlich stört die Dreistigkeit der Idee mehr als diese an sich: wie sollte ein Dorf ökonomisch die Verdopplung der Einwohner binnen weniger Woche tragen? Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Arbeitsplatzsituation mehr oder minder ausgereizt ist, auch hier gibt es Arbeitslose, Obdachlose, Hoffnungslose. Überhaupt ist die Karibik ökonomisch eher schwach, Bananen- und Ananasplantagen die Hauptwirtschaftssektoren und die Kriminalitätsrate hoch. Zudem explodierte die Bevölkerung binnen der letzten Jahrzehnte.

Die Menschen in La Perla sind besorgt um den ‚sozialen Frieden’ und fürchten eine Verschlechterung der Arbeitssituation, deshalb mobilisieren sie sich, hängten Banner auf und widersetzten sich der Order aus San José zur Wahrung der Gemütlichkeit des Ortes. Ein weiterer kritischer Punkt ist das Wasser: mit der Verdopplung der Bevölkerung sind die Ressourcen in 20 Jahren erschöpft, die Quellen haben nicht die Kapazität, so viele Menschen zu versorgen. Außerdem sollen die Häuser auf Viehzuchtfeldern errichtet werden, was den dort operierenden Menschen gleichsam ihre Lebensgrundlage entzöge. Eine urbanización ist kein schöner Anblick. Es erinnert sehr an nordamerikanische Vororthäuschen. Alle sind gleich konzipiert, gedrungen, bieten einer normierten Familie Unterschlupf, stehen dicht an dicht, jedes verfügt über einige Quadratmeter Rasen jeweils nach vorne und hinten hinaus. Sie sind einfarbig in sich wiederholendem Muster bemalt – blau, ocker, grün, gelb, rot, blau – und eingezäunt. Sie rufen in mir allein schon vom ästhetischen Empfinden oder der evozierten Assoziationen zur restriktiven kleinbürgerlichen Vorstadtidylle Brechreiz wach. Ein Glück, dass letztere dadurch abgemildert werden, dass einem von überallher Marihuana-Duftwolken zuschweben und die Menschen ihre Hosen viel zu tief tragen (und zu viele Waffen mit sich führen), um wirklich passend in dem sich mir aufdrängenden Bild zu wirken. Aber ich muss zugeben, dass die Sorgen der Bewohner La Perlas berechtigt sind, in mehreren Fällen in der Region wurden solche Pläne umgesetzt... dorthin wagen sich inzwischen nur noch Studenten der UCR und ich, wenn wir Informationen über Ananasmoratorien an den Mann bringen...beziehungsweise an die Frau, da auch wir dieses waghalsige Unternehmen nur vormittags durchführen, wenn die Männer arbeiten sind. Neulich haben Schulkinder Steine nach uns geworfen, weil ich weiß bin. Glücklicherweise trafen sie nur meine Begleiter.

In diesem Sinne verstehe ich also die Sorgen der Anrainer und dementsprechend half ich ihnen auch bei der Mobilisierung der Nachbarn, allerdings finde ich ihre Haltung etwas zu einseitig. In der Art und Weise, wie das Unterfangen vollzogen werden sollte, ist es sicher abzulehnen, und der nächste Schritt der staatlichen Institutionen, die lokalen Entwicklungsorganisationen zu einem privaten Essen einzuladen, ebenso zu verurteilen. Aber in ihrem Aufbegehren ließen sie durchblicken, oder zumindest so habe ich es verstanden, an keiner Art von Entwicklung, von Änderung interessiert zu sein. Die Menschen speziell dieses Dorfes verrennen sich sehr schnell in ihren trotzigen Stolz, deklarieren sich als unschuldige Opfer (was sie ja auch meist sind), aber leider auch als oberste Instanz der Rechtschaffenheit und skandieren dann Leitsätze, die besagen, dass sie sich überhaupt nichts aufzwingen lassen.

Es ist schwierig, hier Partei zu ergreifen. Aufgenötigte Entwicklung und Ausbau sind sicherlich die falschen Maßnahme, besonders wenn aus unehrbaren Motiven und wenn die Falschen davon profitieren, aber allgemeine Verteufelung jeglichen externen Einflusses außer vielleicht der Touchscreen-Handys, die ja ‚jetzt jeder hat’ scheint mir auch falsch. Vermutlich muss die Bereitschaft erst geschafft werden, dann kommt die ‚Entwicklung’ von ganz allein...oder ist sie überhaupt wünschenswert? Doch was passiert in der Zwischenzeit mit den Slums San Josés?

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