Der Geschmack des Kakaos

von 22 anna_a  

Ich sitze in einem Saal der, rein aus ästhetischer Sicht gesehen, nicht viel zu bieten hat. Zwar sind die Wände farbig gestrichen, doch wer auch immer dafür zuständig war, hat mit dem blassen Grün und Gelb, dass die Wände bedeckt, keine sonderlich gute Wahl getroffen. Der Fliesenboden, die weißen Tische und das kahle Licht tragen ebenfalls nicht gerade dazu bei, den Raum ansprechender wirken zu lassen. Doch das ist auch egal.

Denn es ist weder die Farbe der Wände noch die des Bodens, die diesen Raum interessant machen. Was den Raum interessant macht, sind die Leute, die mit mir am Tisch sitzen, sind die Gespräche, die sie führen, die Leben, die sie leben. Der Kampf, den sie führen. Manche seit zwei drei Jahren, andere seit mehr als dreißig. Aber eigentlich ist er schon immer Teil ihres Lebens. Denn das ist es, um was es in den letzten Tagen ging: Ihr Leben, ihr Alltag, Das Leben der Indígenas in Costa Rica.

Ich nippe an dem Kakao in meinen Händen. Bitter, ganz ohne Zucker, ganz anders, als ich Kakao bis jetzt kannte. Der herbe Geschmack füllt meinen Mund und direkt fühle ich mich zurück versetzt an den Ort, an dem ich ihn das letzte Mal wahrgenommen habe. Der Kontrast könnte kaum größer sein. Anstelle des kalten Lichts der Neonröhren fühle ich die warmen Strahlen der untergehenden Sonne in meinem Gesicht, die halblebigen Farben der Wände werden abgelöst vom tiefen Grün des Waldes. Vor mir erstrecken sich die bewaldeten Hügel Punta Buricas, hinter denen sich Panama versteckt, soweit im Süden sind wir schon. Tief unten spülen in kraftvoller Regelmäßigkeit die Wellen des Pazifiks an den Strand. Der Himmel und sein Spiegelbild tauchen die Welt in eine Flut aus Gelb und Orange. Später wird sie in ein ruhiges Lila übergehen, durchzogen vom stillen Graublau der Wolken. Und noch etwas später wird sich ein dunkles Blau über alles legen, durchbrochen nicht von Straßenlaternen und Neonreklamen, sondern vom hellen Licht des fast vollen Mondes. Drüben wird dann ein Lagerfeuer angezündet werden, um den kalten Wind, der vom Meer her weht, zu vertreiben. Begleitet vom Geschmack des Kakaos werden Geschichten erzählt, der Tag klingt aus.

Ein unangenehmes, durchdringendes Quietschen, verursacht durch eine ungute Begegnung einer der Metallbeine der Stühle mit den Fliesen holt mich abrupt zurück in den grüngelben Raum in San José. Der Kakao in meiner Hand behält seinen bitteren Geschmack. Und noch etwas weiteres bleibt gleich. Neben mir sitzt Zeidy, eine junge Frau aus der Comunidad Campo Verde im Gebiet der Ngöbe in Conta Burica. Der Ort, an dem der Himmel ins Meer und Costa Rica in Panama übergeht.

Anfang des Jahres hatte ich die Gelegenheit, ihn gemeinsam mit anderen Freiwilligen zu besuchen. Dort habe ich Zeidy kennengelernt und bei der Verabschiedung nicht gedacht, sie so bald wieder zu sehen. Erst recht nicht an einem so ganz anderen Ort. Aber hier sind wir. In San José, bei der jährlichen Versammlung von FRENAPI- der Frente Nacional de los Pueblos Indígenas. Dass Zeidy hier ist, das macht Sinn. Gemeinsam mit rund zwanzig anderen VertreterInnen indigener Gemeinschaften Costa Ricas formt sie Frenapi, eine Organisation, die seit mehr als zwanzig Jahren für die Durchsetzung der Rechte der Indigenen Bevölkerung in diesem Land kämpft.

Das ich hier bin ist nicht so naheliegend, die Erklärung trotzdem recht einfach. Frenapi wird begleitet vom Comité Nacional de Apoyo a la Autonomía Indígena, etwa zu übersetzen als nationales Komitee zur Unterstützung der Autonomie der Indigenen Völker. Dieses Komitee besteht aus verschiedenen Organisationen, die im Bereich Menschenrechte, Gerechtigkeit und Frieden arbeiten. Das Centro de los Amigos para la Paz- kurz CAP- ist ebenfalls Teil davon. Ich bin Freiwillige vom CAP und über diese Verbindung habe ich die Möglichkeit, hier dabei zu sein.

Am Dienstag Nachmittag ging es los, Mittwoch, Donnerstag, Freitag von 6:30 Uhr bis 19:00. Lange Tage, aber doch keine Minute zu viel. Lange Tage, in denen ich so viel lernen und erfahren, so viele neue Menschen und ihre Geschichten kennen lernen darf. Lange Tage, die mich zum Nachdenken anregen.

Frenapi, arbeitet, unterstützt durch das Comité de Apoyo, für die Durchsetzung der Rechte der Indigenen in Costa Rica. Ich sage mit Absicht Durchsetzung, nicht Schaffung oder Einführung. Denn bereits seit den 70er Jahren gibt es in Costa Rica das Ley Indígena, ein Gesetz, in dem das Recht der Indigenen auf ihr Land festgehalten wird und das auf gleicher Ebene mit der Verfassung des Landes steht. Doch seit seiner Festlegung vor mehr als 40 Jahren lässt seine Umsetzung noch immer auf sich warten.

Noch immer sind große Teile der Territorios in den Händen von Großgrundbesitzern und Unternehmen. Noch immer haben die Indigenen nicht ihr Land zum leben, das ihnen, seit Jahrzehnten sogar gesetzlich festgehalten, zusteht. Noch immer gibt es zahlreiche Konflikte und Probleme in Bereichen wie Bildung, Arbeit,Infrastruktur und Versorgung bzw. Versorgungsunabhängigkeit. Zwar existieren auf dem Papier viele staatliche Institutionen, die sich genau um diese Dinge kümmern sollten, aber auch hier sieht die Theorie besser aus als die Praxis. Die Einrichtungen, die dazu gedacht sind, den Comunidades zu helfen, werden oft, wenn sie nicht einfach inaktiv sind, nur selber zu einem weiteren Hindernis für die Autonomie der indigenen Bevölkerungsgruppen. Und mehr Autonomie ist das, was Frenapi fordert. Autonomie im Bereich der Gesundheit, Bildung, der Bewirtschaftung ihres Landes; Recht auf ihre eigene Art zu denken und zu leben, mit der Natur, so wie es schon immer gewesen ist.

Die Situation hat sich seit der Einführung der Gesetze nicht gerade verbessert, das Land wird weiterhin verkauft von Leuten, denen es nie gehört hat an Leute, denen es ebenfalls nicht gehört. Und nicht nur Land geht verloren, auch Leben.

Vor einigen Jahren fingen vereinzelte Gruppen aus den Indigenengebieten an, sich ihr Land zurück zu nehmen. Die vorangegangenen jahrzehntelangen Prozesse von Verhandlungen und Protestaktionen trugen keine Früchte und so begannen die Recuperaciónes- die Rückgewinnung des Landes. In den letzten fünf Jahren kam es zu zwei Todesfällen auf Seite der Indigenen, die im direkten Zusammenhang mit den Prozessen der Landgewinnung stehen. Sergio Rojas wurde im März 2019 in seinem Haus im indigenen Territorium Salitre erschossen. Bis heute wurde diese Tat nicht von juristischer Seite verfolgt, keine Investigationen in die Wege geleitet, keine Täter identifiziert.

Elf Monate nach Sergios Tod wurde Jehry Rivera im Indigenengebiet Terraba ermordet. Erst vor kurzem begann der Prozess gegen den Mörder Luis Varela Rojas, der schon viele Monate zuvor vor laufenden Kameras und unter Beifall der Anwesenden bei einer Versammlung in seinem Dorf stolz zugegeben hatte, Jehry erschossen und dadurch sein Land verteidigt zu haben. Mit 22 Jahren Haftstrafe wurde, nachdem zwei Jahre lang kein Prozess in die Wege geleitet wurde, die Mindeststrafe gegen ihn verhängt.

Die Gewalt, zu der es im Rahmen dieser Konflikte zwischen Indigenen und den mittlerweile auf dem Land ansässigen Campesinos immer wieder kommt, wird häufig den Indigenen zugeschrieben. Erst vergangene Woche forderte der Präsident Rodrigo Chaves zu Frieden in den Territorien auf, ohne dabei zu beachten, dass es, würde er und seine Regierung sich an die bereits bestehenden Gesetze halten und für ihre Durchsetzung eintreten, gar nicht erst zu solchen Auseinandersetzungen kommen würde.

Das sagen mir die Leute, mit denen ich spreche, als Antwort auf meine Frage danach, wie man Frieden in den Teritorios erreichen kann. Durch die Rückgabe der Gebiete an ihre ursprünglichen, rechtmäßigen BewohnerInnen.

Langsam nehme ich einen weiteren Schluck Kakao. Das Land, das uns umgibt ist seit Jahrhunderten Heimat für die Menschen, die neben mir am Lagerfeuer sitzen. Ich denke zurück an das, was ich heute alles erfahren durfte. Die Finca haben wir kennengelernt, haben Bohnen, Knollen und Wurzeln für das Abendessen gesammelt. Konnten von oben auf dem Hügel das Land überblicken, dass die Leute ernährt. Es gibt Pläne, hier eine Straße zu bauen. Bis jetzt ist dieser Fleck Erde nur zu Fuß oder Pferd erreichbar, die nächste Straße liegt zwei Stunden Fußweg entfernt.

Ein direkter Anschluss, das würde das Leben hier verändern. Innerhalb der Gemeinschaft gibt es geteilte Meinungen darüber, ob zum besseren oder schlechteren. Zeidy und ihre Familie sind eindeutig dagegen. Ich kann mir schwer vorstellen, wie es jemand für eine gute Idee halten kann, den unberührten Primärwald, durch den wir knapp 12 Stunden hergewandert sind, durch eine Straße zu verstümmeln. Dann denke ich an einen meiner Mitfreiwilligen, dessen Fuß durch ein uns unbekanntes, den Menschen hier aber anschneidend sehr vertrautes Bakterium auf etwas das Doppelte seiner gesunden Größe angeschwollen ist. Mittlerweile gleicht die am Anfang so klein und unschuldig aussehende offene Stelle eher einer hässlichen Schusswunde und macht es ihm unmöglich, weiter als zehn Meter zu gehen. An 25 km durch den bergigen Wald zu laufen, um hier wieder weg und zum nächsten Arzt zu kommen, ist nicht zu denken. Und schon wirkt so eine Straße gar nicht mehr so böse.

Die Leute hier kennen nicht nur diese Art von Wunde schon, sie wissen auch, dass die Natur darauf eine Antwort hat. Über Nacht wird die Wunde mit einer Paste aus zermahlenen Pflanzen bestrichen und der Fuß in einen Umschlag aus verschiedenen Blättern gewickelt. Das zieht alles Böse, was im Fuß steckt, raus, wird uns erklärt. Ganz von selber funktioniert das mit dem Rausholen dann doch nicht und am nächsten Tag nimmt sich eine der Töchter unter den aufmerksamen Augen der ganzen Familie der Sache an und entfernt einen großen Klumpen böses Zeug aus dem Fuß. Ich erspare euch die Details. Doch schon in den nächsten Stunden schwillt der Fuß merklich ab, und Tortuga, die Schildkröte, kann wieder besser laufen. Diesen Namen hat er von dem kleinen Jungen, der hier herumwustelt, aufgrund seines zugegebenermaßen etwas mitleiderregendem Humpelns bekommen.

Das Land hat eine Antwort. Man muss sie nur kennen. Auch das war Thema der letzten Tage zwischen den gelb grünen Wänden. Das Wissen der Kulturen über ihr Land, über ihre Praktiken und Traditionen. Anbau der Nahrungsmittel, Heilkunde und Medizinpflanzen, Sprache, Bräuche, Traditionen. Immer mehr dieses Wissens geht verloren, immer weniger können sich noch erinnern. Die Bildungspläne, von staatlichen Institutionen ausgestellt, sehen keinen Raum für die Weitergabe und Erhaltung dieser Kenntnisse vor.

Frenapi möchte auch hier ansetzen. Veranstaltungen und Seminare werden geplant, regional und überregional. Themen wie Versorgungsunabhängigkeit und Traditionen sollen behandelt werden, aber auch das Thema Rechte. Denn viele kennen die Gesetzeslage überhaupt nicht. Das ist aber Voraussetzung für eine grundlegende Verbesserung, wird mir gesagt.

Heute, am Freitag Morgen, fand eine Pressekonferenz statt. Die zweite, die ich mitbekomme. Wie auch das erste mal ist es sehr beeindruckend, den Menschen, die da vorne am Tisch sitzen, zuzuhören. Die einen sprechen mit der Erfahrung von ein, zwei Jahren, andere mit der von drei, vier Jahrzehnten. Das muss so frustrierend sein, schießt es mir durch den Kopf. Die Dinge, die gesagt werden, sind schon nichts mehr Neues für mich, dabei beschäftige ich mich erst seit so kurzer Zeit mit dem Thema. Auch viele der Gesichter im Publikum habe ich schon ein oder zwei Mal gesehen. Ich bin mir sicher, dass es 90 Prozent der Zuhörenden ebenso geht. Ganz zu schweigen von den Hauptpersonen dieser Konferenz, die da ins Mikrofon sprechen. Jahr für Jahr geht es um die gleichen Probleme, viel zu häufig kann von keinen Erfolgen berichtet werden. Man braucht langen Atem, schätze ich.

Gestern habe ich einige der Mitgliedern von Frenapi nach einer Einschätzung der aktuellen Situation der Indigenen gefragt. Die Stimmung, die ihre Antwort prägt, unterscheidet sich von Person zu Person, im Großen und Ganzen wird jedoch eine negative Bilanz gezogen. Zwei Antworten stechen mir durch ihren Kontrast besonders ins Auge. Mit fast schon wütender Entschlossenheit berichtet mir eine junge Frau, die erst seit wenigen Jahren mit Frenapi arbeitet, wie fatal die Lage der Educacion, Tierra und Semillas ist (Bildung, Land und Samen und damit der eigene Anbau von Lebensmitteln). Die einzige Antwort, die sich auf die positiven Aspekte bezieht, bekomme ich von einem der Gründer Frenapis, der schon seit mehr als 40 Jahren Teil dieses Kampfes ist. Er meint, dass heute, im Vergleich zu früher, das Thema Indigene immerhin existiert und behandelt wird. Damals habe man nicht darüber geredet, niemanden habe es interessiert, viele seinen der Auffassung gewesen, dass es in Costa Rica überhaupt keine Indigenen mehr gibt. Heute hingegen ist das anders, es gibt Debatten und Veranstaltungen zu dem Thema, es haben sich Gruppen und Vereine zur Unterstützung der Indigenen gebildet.

Ich schätze, nur mit diesem Blick auf die Welt schafft man es, nicht aufzugeben und einfach immer weiter zu machen.

Ich nehme den letzten, krümeligen Schluck Kakao. In Campo Verde würde ich mich jetzt in meine Hängematte legen, eingepackt in zwei Pullis und ein Moskitonetz, das ich zur Decke umfunktioniert habe. In einigen Stunden würde ich aufwachen vom Geschrei der Brüllaffen, die weiter unten im Wald unterwegs sind, würde kurz in das Orange und Rosa der aufgehenden Sonne blinzeln und dann nochmal einschlafen.

In San José muss ich jetzt los, draußen wird es dunkel und ich muss noch heim laufen. Zu spät sollte es da nicht sein, will ich noch heile und im Besitz meines Handys und Geldbeutels zuhause ankommen.

Ich verabschiede mich von Zeidy - wer weiß, wo man sich das nächste Mal wieder sieht. Und auch all den Anderen sage ich Tschüss, bedanke mich, Teil dieser vollen Tage gewesen sein zu dürfen. Hände werden geschüttelt, ich werde herzlich umarmt, eingeladen, doch mal hier oder da vorbei zu schauen, dem Zuhause der ein oder anderen ein Besuch abzustatten, an den geplanten Aktivitäten teilzunehmen. Ich bin gespannt, wie viele dieser Menschen ich nochmal sehen werde.

Ich werfe meinen benutzen Pappbecher, an dessen Boden noch einige vereinzelte Kakaoklumpen hängen, in den Mülleimer neben der Türe und verlasse den Raum mit den gelbgrünen Wänden. Ein frischer Wind fährt mir entgegen und ich blinzele mir die Haarsträhnen aus den Augen. Ich laufe durch den Innenhof der Seminargebäude, durchquere die Eingangshalle und trete auf die Straße. Rechts neben mir wird das Lila des Abendhimmels immer dunkler, die Lichter der Stadt glitzern in an den dunklen Hängen, die immerwährende Geräuschkulisse der Stadt umfängt mich. Durch eine Reihe aus Palmen sehe ich die Umrisse de Asalmblea Legislativa, den Regierungssitz, der wie ein uneinnehmbarer Klotz mitten im Zentrum der Stadt thront. Ich wende mich nach links und begebe mich auf den Heimweg, mein Kopf voll mit Gesichtern, Geschichten, und Gedanken, auf der Zunge eine schwache Ahnung des Geschmacks des Kakaos.

BlogNo:03

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