Und weg

von 22 anna_a  

An der Ecke vorne steht ein Haus. Ein kleines Haus. Ein hübsches Haus. Mit Balkon, mit Pflanzen vor der Tür, mit zwei Stockwerken und kleinen Fenstern, in denen sich der bunte Abendhimmel spiegelt.

Das Haus, das da an der Ecke steht, fällt erst gar nicht auf. Aber ist es einmal aufgefallen, fragt man sich, warum man es nicht davor schon gesehen hat. Es ist so ganz anders, als die anderen Häuser, die es umgeben. Große Hochhäuser, verspiegelte Fensterfronten, große, automatische Schiebetüren, beleuchtete Neonschrift.

Vielleicht fällt das kleine Haus mit dem Balkon gerade deshalb nicht auf. Ob da jemand wohnt, hier im Viertel mit all den Gebäuden der Judikative, mit den Banken und Geschäftssitzen? Danach sehen diese Bauten jedenfalls aus. Das kleine Haus lässt stutzen, lächeln, eine Geschichte entstehen.

An der Ecke vorne steht ein Haus. Wer da wohl wohnt? Früher, lange bevor die großen Gebäude ihren Schatten auf den kleinen Vorgarten warfen und die gestutzten Hecken und der getrimmte Rasen neben der Straße noch nicht existierten, da war das rosa Haus ein Zuhause. Mit Leben gefüllt, mit Lachen und Weinen, mit Schreien und Lieben, mit Kommen und Gehen. In seinen Wänden und im geschützten Grün seines Gartens lernten kleine Füße tapsig, ihre ersten Schritte zu gehen, taten alte Beine ihre letzten. Da trafen Lebenswege aufeinander, trennten sich, verworren sich, blieben beieinander.

Da vorne an der Ecke steht ein Haus. Wer da wohl wohnt? Kurz nachdem sie eingezogen sind und aus zwei drei geworden sind, wird ein kleiner Setzling in die Erde im Garten gepflanzt. In den Monaten, in denen die Sonne tagtäglich auf die Erde scheint und dem Boden mit ihren Strahlen die Feuchtigkeit entlockt, in diesen Monaten geht sie raus, in den Händen eine Schüssel Wasser. Jahr für Jahr braucht sie eine größere Schüssel, irgendwann läuft sich nicht zwei sondern zwanzig mal.

Die rosa Fassade des Hauses blättert, von der Sonne ebenso ausgetrocknet wie die Erde, im Lauf der Jahre ab. Dringend müsste sich mal wieder jemand Zeit nehmen und den Anstrich erneuern. Aber sich Zeit nehmen, das ist gar nicht so leicht. Immer passieren so viele Sachen, so schnell kommt das neue Jahr.

Da vorne an der Ecke steht ein Haus. Wer da wohl wohnt? Die alte Frau steigt jeden Morgen aus dem Bett und blickt nach draußen. Erinnert sich daran, wie sie den Caz- Baum, der vorne neben dem Eingang steht, damals mit ihrer Mutter gepflanzt hat. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist das jetzt her. Wie schnell die Zeit doch vergeht. Gestern hat sie einen Brief bekommen. Der Baum muss weg, die Äste, die über den Zaun hinaus stehen, stellen eine Gefahr dar. Müde schüttelt sie den Kopf. Auf was für Ideen die Menschen doch kommen. Wie viele Verletzungen gab es denn in den letzten Jahren durch Cazfrüchte, die im überreifen Zustand den Passanten auf die Köpfe gefallen sind? Obwohl, denkt sie schmunzelnd, das eine Mal, vor vielen Jahren, als die griesgrämige Nachbarin vorbei kam, um sich wieder einmal über irgendwas zu beschweren, da haben sich diese Früchte als doch ganz nützlich erwiesen...

Sie blickt aus dem Fenster in die verschlungene Krone des Baumes. Die zwei Astlöcher sehen aus wie Augen. Wie viel sie schon gesehen haben.

Ohne den Baum wird das saftige Grün fleckig und trocken werden, wird das bunte Blühen und das lebhafte Summen aufhören, wird sich das Grau der Straße ausbreiten. Nein, denkt sie, so geht das nicht. Solange ich hier bin, solange bleibt der Baum.

Da vorne an der Ecke steht ein Haus. Wer da wohl wohnt? Gestern um 17:34 war über der Straße und zwischen den Ästen ein dunkelrosa Himmel zu sehen. Gestern, um 17:34 hörte ihr Herz auf zu schlagen. Gestern um 18:03 unterschrieben sie das Papier, dass das Leben des rosa Hauses in neue Hände gab. Mit diesen Strichen, lieblos und eilig unten auf das Papier gesetzt, wurde der Baum gefällt, wurde der Zaun abgerissen, wurde das Grün zu Grau.

Da vorne an der Ecke, da stand ein Haus. Wer da wohl wohnte? Erschöpft zieht er sich den gelben Schutzhelm vom Kopf, um sich mit der Hand die Schweißperlen von der Stirn zu streichen.Vor kurzem erst ist er aus Nicaragua hier her gekommen. Eine gute Arbeit hat er sich versprochen, um für seine Familie zu sorgen. Arbeit hat er gefunden, gut ist sie nicht. Nichteinmal den viel zu niedrigen Mindestlohn bekommt er, ob bei Sonne, ob bei Regen, stundenlang ist er draußen, tagein, tagaus. An manchen Tagen baut er Häuser, baut er Straßen, an anderen Tagen reißt er sie ab. So wie heute.

Er blickt in die grelle Sonne. Gäbe es doch nur einen Baum, der etwas Schatten spenden würde!

Die zerbrochenen Teile der Hauswand umgeben ihn. Reste der rosa Farbe hängen an ihnen, abgeblättert und verblichen. Kurz wird er traurig. Wie gerne hätte er einen Pinsel in die Hand genommen und dem alten Gesicht des Hauses eine neue Frische gegeben, statt es zu zertrümmern. Aber dafür wird er nicht bezahlt. Er macht eine Schritt zurück, stolpert und fällt fast hin. Verwirrt blickt er nach unten. Eine kleine, runde Frucht hat sich unter seine Stiefelsohlen geschoben und ihn ins Straucheln gebracht. Caz. Die kenne ich gut, denkt er und erinnert sich an den frischen Saft, den es im Sommer immer bei seinen Großelten gab. Wie die wohl hier her kommt? Achselzuckend bückt er sich, hebt die Frucht auf und wirft sie auf die Straße. Noch einmal möchte er nicht stolpern.

An der Ecke vorne, da stand ein Haus. In der Glasfront von Gegenüber spiegelt sich jetzt nur noch ein leerer Flecken Erde, plattgewalzt vom Gewicht der Baumaschinen. Die Straße hat ein leichtes Gefälle, weiter unten säumt ein schmaler Streifen Wiese den Beton.

An der Ecke vorne, da stand ein Haus. Ein Stück die Straße runter, in einem unverhofftem Flecken Grün, streckt ein kleiner Sprössling vorsichtig seine Ästchen der Sonne entgegen. Leicht zu übersehen ist er, aber das junge Mädchen, dass hier jeden Morgen zu Schule geht, hat ihn schon entdeckt. Seitdem packt sie immer eine extra Flasche Wasser ein, denn sie weiß, wie schnell die Erde hier trocken wird.

An der Ecke vorne, da stand ein Haus. Viele Jahre ist es jetzt her, der kahle Fleck Erde ist verschwunden, verdeckt von einer Schicht Beton, die Platz zum Parken für die Autos der vielen vielen Menschen bietet, die hier im Viertel arbeiten. Morgens kommen sie an, steigen aus, laufen eiligen Schrittes zum Büro. In der einen Hand ihr Handy, in der anderen einen Pappbecher mit Kaffee. Abends kommen sie ebenso eilig zurück, wollen schnell weg, schnell nach Hause.

Unten an der Ecke steht ein Baum. Mit seiner Fülle an Früchten und dem Rauschen der ausladenden Äste bildet er eine Insel mitten im Gerenne der Menschen. Manchmal, da spaziert eine alte Frau vorbei, bleibt kurz in seinem Schatten stehen, legt eine Hand an seinen Stamm und denkt zurück daran, wie schwer ihr Rucksack früher wegen dem extra Wasser war. Dafür hat es sich gelohnt, denk sie und blickt den vorbeieilenden Menschen hinterher. Sie sehen den Baum nicht, denkt sie. Aber sie werden die Lücke sehen, falls er eines Tages nicht mehr hier stehen sollte. Sie steckt eine der Cazfrüchte in ihre Tasche und macht sich auf den Heimweg.

Da vorne an der Ecke, da ist eine Lücke. Kein kleines Haus. Kein hübsches Haus. Kein Balkon, keine Pflanzen vor der Tür , keine zwei Stockwerken und keine kleinen Fenstern, in denen sich der bunte Abendhimmel spiegelt. Da vorne an der Ecke, da stand ein Haus.



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