Liegengebliebene Tagebücher

von 22 hoa  



Hoffentlich sind wir beide ähnlich gestrickt, wenn es um jahrelang liegengebliebene Tagebücher geht, die man irgendwann in einer Episode der Langeweile oder des Aufräumens wiederfindet und mit einer Gänsehaut aus Fremdscham durchliest. In meinem Fall vor einigen Minuten aber, empfand ich es wunderschön, meinen Quartalsbericht aus Januar wiederentdeckt zu haben, der all die wirren Gedanken dieses besonderen Jahres festhält und daher denke ich, es gibt keinen besseren Moment einige Passagen zu veröffentlichen als jetzt, ein halbes Jahr später.



DARÜBER WIE TAGE INEINANDER VERFLIEßEN UND MEINE ANFÄNGE IM BUSFAHREN

Die Tage sind hier kürzer, ich bin mir fast sicher. Sie verfließen schlichtweg einfach ineinander. Drei Monate sind es bereits. Einerseits fühlt es sich erst wie gestern an, als ich mein Visum in der Hand hielt und meine beste Freundin unter Tränen am Berliner Hauptbahnhof verabschieden musste. Andererseits müssen es mindestens zwei Jahre gewesen sein, um so viel Veränderung, Entfremdung und wiederum Eingewöhnung zu erklären. Drei Monate reichen, um (irgendwie) anzukommen.

Ich erinnere mich noch daran, wie es war: das erste Mal Busfahren. Es war eine einfache Fahrt vom Flughafen in die Innenstadt, höchstens eine halbe Stunde. Die zwei dicken Pullover aus dem kalten Deutschland hatte ich noch an und ich zog meinen großen schwarzen Koffer hinter mir her. Auf meinen Schultern ein vollbepackter Rucksack, an dem Brustgurt hing mein Kuscheltier und an der rechten Schulter ein paar vietnamesische kulinarische Spezialitäten in einem Stoffbeutel, die mir meine Mutter noch in letzter Sekunde mitgab. Nach einem Flug von 32h war allein stehen schon anstrengend. Irgendwie habe ich es dann durchgeschwitzt zur Bushaltestelle geschafft. Die nächste Herausforderung: welcher Bus fährt wohin? Ich versuchte mit dem Mann, der dort mit anderen Personen wartete zu fragen, wie ich zu meinem Ziel komme und dabei versuchte drei Mal in einen Bus einzusteigen, wurde aber zum Glück aufgehalten. Es war drei Mal der falsche Bus. Ich kam schließlich an.

Ich erinnere mich auch noch schließlich daran wie es war, das erste mal in mein Projekt an die Pazifikküste zu fahren: Ich kannte die Straßen nicht, die Menschen nicht, die Sprache nicht. Dem Busfahrer zeigte ich eine spanische Notiz auf meinem Smartphone, die ihm kommuniziert, wo ich hin muss und wie meine „Haltestelle“ heißt. Ich beobachte neugierig das viele Grün draußen, schenkte meinem Handy aber auch immer hastig einen Blick auf Google Maps, ich wollte ja den Ausstieg nicht verpassen. Alles war interessant und ich wünschte mir, der Bus würde langsamer fahren, sodass ich alles genau und in Ruhe betrachten kann, wie in einem Museum.

Heute, drei Monate sind vergangen, warte ich auf einem gelben Streifen auf der Straße, die offiziellen Haltestellen im Dorf. Mal früher, mal später kommt dann auch schon der Bus. Den Busfahrer kenne ich, sowie den Betrag von 2200 CRC den ich für die Fahrt zur nächstgelegenen Stadt, Puntarenas, bezahle. Nicht jede Mahlzeit führt mehr zu einer kleinen Auszeit im Klo und die Mücken werden auch freundlicher. Ich habe zwei Zahnbürsten. Eine in der Einsatzstelle, eine im Haus in Morales. Ein unfassbar heißer Ort, an dem jedes Haus klein und gleich aussieht. Die Menschen in ihnen machen sie erst einzigartig. Der Supermarkt ist in 15 Minuten und nur nach Sonnenuntergang für mich erreichbar und ich kenne jeden Preis. Weiß was teuer ist und was schmeckt. Der Kassierer bereitet das EC-Gerät vor noch bevor ich überhaupt die Waren auf den Tisch lege, ich bezahl immerhin immer mit Handy. Ich mache Frühstück, koche das Omelett ohne Tomaten, weil meine Gastschwester es so lieber mag und sie lässt dafür die Totiallas immer weg, weil sie doch am Ende nur an unseren Hund Macho draußen im Garten hingeworfen werden. Mittlerweile erkenne ich Esther und Ezequiel, meine Gasteltern, schon an ihren Schritten. Was einmal fremd im Oktober war, ist heute schon wie Normalität. Das genieße ich sehr. Während mir meine Erinnerungen nach Deutschland immer mehr entgleiten, es war ja so anders dort. Es fühlt sich surreal an daran zu denken, dass meine Füße am Morgen einen Laminatboden berührten statt einem provisorisch angepinselten unebenen Lack Boden, oder dass ich für eine 30 km Strecke mit öffentlichen Verkehr nicht zwei Stunden benötigte oder auch, dass ich mal dicke Winterjacken besessen habe. Genauso wie der Gedanke an fließendes und warmes Wasser, das nicht nach Chlor schmeckt oder andauernd ausfällt. Es klingt fast wie eine schlechte Lüge, wenn ich mich selbst an unserem vollen Obstkorb auf dem Esstisch und den 2,10 m großen gefüllten Kühlschrank denke, für dessen Inhalt ich nicht das doppelte bis dreifache zahlen musste.

Durch mein Dorf Costa de Pajaros fahrend, das aus einer ca. vier Kilometer langen Straße mit Wellblechhäusern drumherum und einer Fischerküste besteht, merke ich genau einen großen Unterschied: die Entschleunigung. Vielleicht gilt in anderen Orten Costa Ricas überall „Pura Vida“ hier gilt aber eher „Tranquilar“

BlogNo:04

Noch kein Feedback


Formular wird geladen...